Wo ist die parlamentarische Linke geblieben?

Joachim Hirsch

Die Feststellung ist wohl nicht übertrieben, dass sich die linken Parteien nicht nur in Europa in einer Krise befinden. In Frankreich wurde die Präsidentschaftswahl zwischen dem liberalen Macron und der rechtsradikalen Le Pen entschieden. Auf letztere entfielen immerhin über 40 Prozent der Stimmen. Die radikale Linke konnte zwar einen Achtungserfolg erzielen, allerdings im Wesentlichen durch Protestwähler, die bei denen, angenommen wird, dass sie in der Stichwahl teilweise für Le Pen gestimmt haben. Die Sozialdemokratie ist dort praktisch verschwunden, ebenso wie die konservativen Parteien. In Deutschland muss die Linkspartei nicht zuletzt auf Grund ihrer inneren Zerrissenheit um ihr parlamentarisches Dasein bangen und die mit einem eher bescheidenen Stimmanteil von der SPD gewonnene Bundestagswahl hat mehr damit zu tun, dass die CDU personell und programmatisch völlig ausgebrannt ist. Und sie musste mit der marktliberalen FDP koalieren, weil die verbliebenen Sitze der Linkspartei für eine Mehrheit nicht ausreichen. Falls die SPD eine Koalition mit dieser überhaupt wollte.

Ein Grund für diese Krise ist sicher, dass es ziemlich unklar ist, wie eine soziale und emanzipative Politik unter den heutigen Bedingungen, also nach der erfolgreichen neoliberalen Offensive mit den damit verbundenen gesellschaftlichen Umwälzungen auszusehen hätte. Traditionelle sozialdemokratische, auf die fordistische Arbeitsgesellschaft bezogene Konzepte taugen dafür jedenfalls nicht mehr. Ein wichtiger Grund für den Niedergang aller linken Parteien ist allerdings auch, dass sich die intellektuellen Milieus und Initiativen in Auflösung befinden, auf die sie sich beziehen konnten. Damit erodiert die zivilgesellschaftliche Basis für eine erfolgreiche Politik auf parlamentarischer Ebene. Gerade linken Parteien, die sich nicht auf die etablierten Machtstrukturen stützen können, fehlt dadurch der gesellschaftliche Rückhalt.

Ein Grund für diese zivilgesellschaftlichen Erosionsprozesse ist bei den Corona-Maßnahmen zu suchen, die über lange Zeit persönliche Treffen und Diskussionen unmöglich machten. Diese Entwicklung geht weiter, nachdem sich die scheinbar bequemen Onlineveranstaltungen in weiten Kreisen fest etabliert haben. Fortschreitende Vereinzelung also, die den neoliberalen Individualisierungsschub weiter befördert. Das Problem liegt allerdings tiefer: Handelt es sich vielmehr um eine Schönwetterlinke, die angesichts sich verschärfender ökonomischer und gesellschaftlicher Krisen und wachsender Kriegsgefahr ihre Orientierung verloren hat?

Besonders deutlich wurde dies in der Corona-Krise. Statt die deutlich klassenspezifischen Auswirkungen des Infektionsgeschehens oder die hinter den staatlichen Maßnahmen stehenden Interessen zu thematisieren, wurden diese weitgehend vorbehaltlos unterstützt. Man hätte durchaus deren massive „Kollateralschäden“ thematisieren können, ebenso wie ihre vielfältigen Profiteure. Wichtig wäre auch gewesen, auf den Zirkel hinzuweisen, der durch die von den Medien befeuerte Panikmache zur Durchsetzung der Maßnahmen in Gang gesetzt wurde und der die Politiker*innen einem fortwährenden Handlungsdruck aussetzte. Eine kritische Analyse des Staates und des politischen Systems wäre also vonnöten gewesen. Nichts davon geschah. Als hätte es nie eine Analyse der den existierenden Staat stützenden gesellschaftlich-ökonomischen Machtverhältnisse, also eine materialistische Staatskritik gegeben. Stattdessen breitete sich auf der linken Seite ein Vertrauen in den (herrschenden kapitalistischen) Staat aus, was bislang die Konservativen auszeichnete. Kritik von Seiten der Linken richtete sich vornehmlich und in völlig undifferenzierter Weise auf die Protestbewegungen gegen die Corona-Politik, bei denen es sich nicht nur um Verschwörungsideologen, Rechtsradikale und Esoteriker handelte, sondern die ihren Antrieb auch durch die wachsende Zahl der vom neoliberalen gesellschaftlichen Umbau betroffenen, ökonomisch bedrohten und von Abstiegs- und Ausgrenzungsängsten geplagten Menschen erhielten, die sich im herrschenden politischen System nicht mehr vertreten fühlen. Erneut die Klassenfrage also.

Ähnliches passierte nach der russischen Invasion der Ukraine.  Genau genommen handelt es sich dabei um einen imperialistischen geopolitischen Konflikt zwischen den NATO-Staaten bzw. den USA und Russland, der zu Lasten der ukrainischen Bevölkerung ausgetragen wird und bei dem China der lachende Dritte sein könnte. Es wäre notwendig gewesen, die Entwicklung seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Erinnerung zu rufen, wo es versäumt wurde, an einer europäischen Friedensordnung unter Einbeziehung Russlands zu arbeiten – zugunsten der Osterweiterung der NATO (vgl. dazu den Beitrag von Katja Maurer hier auf links-netz). Natürlich rechtfertigt das nicht die russische Invasion, hätte aber auf die Fehler der angeblich die demokratischen Werte verteidigenden westlichen Staaten aufmerksam gemacht.

Hatte einst die Kritik am Militarismus und die Arbeit an einer friedlichen Weltordnung zu den Grundprinzipien linker Politik gehört – „Frieden schaffen ohne Waffen“ hieß es einst – wird nun in weiten Teilen die Notwendigkeit des Krieges beschworen, ganz in Übereinstimmung mit der Propaganda der etablierten Medien. Der Vorwurf, dass es eine linke Kriegshetze gibt, ist auf jeden Fall nicht ganz unberechtigt. Stellvertretend dafür steht dabei der grüne Hofreiter, der sich überraschend schnell vom Umwelt- zu einem die Ausrüstung der Ukraine mit Angriffswaffen fordernden Militärexperten gemausert hat. Mag ein Grund dafür der Frust über einen verweigerten Ministerposten sein, so dürfte er doch auf einen gewissen Rückhalt bei der Basis rechnen. Für die GRÜNEN ist das nicht ganz neu, man denke nur an den Irak-, den Balkan- und den Afghanistankrieg, nimmt aber durch eine moralisierende, auf eine Analyse der geopolitischen Machtverhältnisse verzichtende   Argumentation besondere Züge an. Signifikant für die Situation in der linken Szene ist auch die recht aufgeregte Diskussion in der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung um die Frage, ob es eine linke Kriegshetze gibt. Sie kennzeichnet besonders deutlich die Spaltungen, die durch sie hindurchgehen. In der Tat reichen die Forderungen bis hin zu einem direkten (das indirekte findet bereits statt) militärischen Eingreifen der NATO-Staaten in den Ukrainekrieg, ganz ungeachtet der damit wahrscheinlicher werdenden Gefahr eines dritten Weltkriegs. Demonstrationen und Aufrufe, die sich gegen den Krieg und gegen die militärische Aufrüstung wenden, blieben eher eine Randerscheinung. Bemerkenswert ist auch, dass die Beteiligung an den Ostermärschen in diesem Jahr eher bescheiden blieb. Auf der anderen Seite gibt es immer noch Versuche, die russische Kriegspolitik wenn nicht zu vereidigen, so doch zu relativieren – ein recht diffuses Bild also im linken politischen Spektrum. Jedenfalls wurde auch hier eine kritische Position – nämlich eine nüchterne Analyse der globalen Machverhältnisse – weitgehend aufgegeben. Damit verliert die Linke eigentlich ihre Existenzberechtigung. Die Welt steht vor einem gewaltigen gesellschaftlichen und ökonomischen Umbruch. Dies vor allem wegen der sich immer deutlicher abzeichnenden großen Krise des Kapitalismus mit ihren sozialen Konsequenzen sowie den globalen Folgen des Klimawandels. Von der Linken – wer immer genau dazuzurechnen ist – ist dazu eher wenig zu hören. Über die Krise der linken Parteien braucht man sich also nicht zu wundern.